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Stand 19.07.2013

Platzierung im Hauptstudium des modularisierten SJ: HS I M 11

Eine der aktuellsten Themen im Bereich Schleuserkriminalität ist für Ausbildung und Praxis unverändert die Visaerschleichung als Bezugstat zum Schleusertatbestand.

1. Rechtsgrundlagen


Im Schleusertatbestand § 96 I Nr. 2 AufenthG stellt das Erschleichen eines Aufenthaltstitels oder einer Duldung durch Falschangaben nach § 95 II Nr. 2 AufenthG ebenso wie die unerlaubte Einreise, der unerlaubte Aufenthalt oder die illegale Erwerbstätigkeit eine Bezugs- und Haupttat der Schleusung dar.

Nach dem Urteil des EuGH vom 10.04.2012 – C-83/12 PPU (NJW 2012, 1641) – steht das EU-Recht – insbesondere Art. 21, 34 VO (EG) Nr. 810/2009 (EU-Visakodex/VK) – einer im innerstaatlichen Recht vorgesehenen Strafbarkeit wegen Einschleusens von Drittstaatsangehörigen, die über ein durch arglistigeTäuschung erlangtes Visum verfügen, nicht entgegen. Zur Begründung führt der EuGH aus, dass Art. 34 I VK die Visa-Annullierung für die zuständigen Behörden desAusstellerstaates obligatorisch vorsieht, während sie für die zuständigen Behörden eines anderenSchengen-Staates im Ermessen steht (Rdnr. 39, 40 der Urteilsgründe). Weiterhin verweist der EuGH darauf, dass einerseits die Systematik des Art. 34 VK verlangt, dass das Aufenthaltsrecht eines Visuminhabers nicht beschränkt werden darf, solange das Visum nicht annulliert worden ist, andererseits aber der EU-Rahmenbeschluss 2002/946/JI und die RL 2002/90/EG eine wirksame Bekämpfung der Schleuserkriminalität verlangen (Rdnr. 45). Da dem EuGH zufolge ein Strafverfahren mit der Erforderlichkeit verbunden sei, Ermittlungen nicht offenzu legen, könne das Erfordernis der Visa-Annullierung vor Einleitung derStrafverfolgung nicht in jedem Fall erfüllt werden (Rdnr. 47). Danach stehen Art. 21, 34 VK der Strafverfolgung in Fällen der Einreisehilfe für Drittstaatsangehörige mit erschlichenen Visa nicht entgegen (Rdnr. 48).

Der am 05.12.2002 in Kraft getretene Art. 1 I RL 2002/90/EG bestimmt (als Nachfolgeregelung des Art. 27 I SDÜ), dass jeder Mitgliedstaat der EU „angemessene Sanktionen für diejenigen“ festlegt, „die

a) einer Person, die nicht Angehörige eines Mitgliedstaates ist, vorsätzlich dabei helfen, in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates unter Verletzung der Rechtsvorschriften des betreffenden Staates über die Einreise oder die Durchreise von Ausländern einzureisen oder durch dessen Hoheitsgebiet durchzureisen;

b) einer Person, die nicht Angehörige eines Mitgliedstaates ist, zu Gewinnzwecken vorsätzlich dabei helfen, sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates unter Verletzung der Rechtsvorschriften des betreffenden Staates über den Aufenthalt von Ausländern aufzuhalten“.

Die RL gilt für
- alle EU-Staaten einschließlich Großbritannien und Irland (Rahmenbeschluss 2000/365/EG und 2002/192/EG), jedoch mit Ausnahme von Dänemark wegen dessen Position zu Art. 61ff EGV (jetzt Art. 77ff AEUV), das jedoch binnen sechs Monaten entschieden hat, die RL in innerstaatliches Recht umzusetzen,
- die Schengen-assoziierten EWR-Staaten Norwegen und Island sowie die Schweiz.

Nahezu wörtlich umgesetzt wurde die RL z.B. zum 01.10.2004 von Schweden (vgl. 20 kap §§ 7, 8 Utlännigslagen: människosmuggling/Menschenschmuggel und hjälp till olovlig vistelse, "om detta görs i vinstsyfte"/Hilfe zum unerlaubten Aufenthalt zu Gewinnzwecken).

2. Rechtsprechung und Praxisfälle zur Visaerschleichung

Für Auslandsvertretungen und Grenzpolizeibehörden relevant ist insbesondere die Visaerschleichung. Die Tathandlung kann in der Vortäuschung eines touristischen Aufenthaltszweckes liegen, um ein Visum zu beschaffen, wenn in Wahrheit jedoch die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit oder ein Verbleib im Inland nach Ablauf des Visums beabsichtigt ist. Eine konkret denkbare Handlung liegt im Erstellen von Touristenprogrammen und Hotelbuchungen, die niemals in Anspruch genommen werden sollen, und deren Überlassung an denjenigen, der sie im Visumantragverfahren bei der Auslandsvertretung vorlegt.

In der veröffentlichten Rechtsprechung hat sich die Justiz in den letzten Jahren z.B. in folgenden Fällen mit der Einreise mit erschlichenen Touristenvisa befasst.

BGH, Urteil vom 11.02.2000 – 3 StR 308/99 – NJW 2000, 1732

Geschleuste: Ukrainische Frauen mit Touristenvisa Typ C.
Tathandlung: Anwerben im Ausland, Beschaffung von Touristenvisa Typ C gegen hohe Geldbeträge; Vermittlung an Barbetriebe, wo die Geschleusten als Prostituierte arbeiteten – in einigen Fällen Einsatz in einem eigenen Bordellbetrieb unter folgenden Bedingungen: Arbeitszeit auf Montag bis Samstag 14-24 Uhr, Abverlangen von 50% des Verdienstes für den Geschlechtsverkehr, 10 DM pro Tag für ihr Zimmer und 150 DM je Woche Kostenpauschale; Verbot, das Haus ohne Begleitung zu verlassen und ohne Erlaubnis einkaufen zu gehen.

BGH, Urteil vom 18.10.2001 – 3 StR 247/01

Geschleuste: Ukrainische Frauen mit Touristenvisa Typ C.
Tathandlung: Anwerben im Ausland als Tänzerinnen, Visabeschaffung mit Falschangaben, u.a. Ausnutzen der Orts- und Sprachunkundigkeit im Inland zum Erzwingen der Prostitution. 

LG Dresden, Urteil vom 29.11.2001 – 7 Kls 154 Js 56510/00 – bei Lorenz, NStZ 2002, 640

Geschleuste: Ukrainische Frauen mit Touristenvisa Typ C.
Tathandlung: Vortäuschung touristischen Gruppenprogrammes für den Raum Dresden und fingierte Hotelbuchungen unter fiktiven Hotelnamen (am PC erstellt), später durch Buchung in einer billigen Absteige, in der die Buchung für 5 DM pro Person storniert werden konnte.

LG Köln, Urt. v. 09.02.2004 - B 109-32/02 ("Visa-Affäre")

Gegenstand der Entscheidung war die Beschaffung von Schengen-Visa Typ C in der deutschen Auslandsvertretung in Kiew/Ukraine durch inhaltlich unzutreffende Verpflichtungserklärungen, Einladungen und Touistenprogramme in großem Umfang.

OLG Karlsruhe NStZ-RR 2004, 376

Gegenstand der Entscheidung war die Beschwerde gegen einen Nichteröffnungsbeschluss des LG Baden-Baden, §§ 210 II, 311 StPO bezüglich der Anklage der Staatsanwaltschaft. Der Angeschuldigte, Alleingesellschafter der Firma H GmbH, stand im hinreichenden Tatverdacht, von November 2000 bis März 2002 in 24 Einzelfällen zur Erzielung einer dauerhaften Einnahmequelle (100 US-Dollar pro Person) Einladungsschreiben für 34 angebliche Reisegruppen ukrainischer Staatsangehöriger gefertigt zu haben, welche der deutschen Botschaft in Kiew (Ukraine) vorgelegt worden seien, um Touristenvisa für die Dauer von zehn Tagen zu erteilen. Den Einladungsschreiben waren laut Anklageschrift touristische Aufenthaltsprogramme der Firma H GmbH und Reservierungsbestätigungen eines Hotels beigefügt gewesen. Eine Umsetzung des Touristenprogramms oder eine Inanspruchnahme der Beherbergungsleistung war zu keiner Zeit vorgesehen – die Unterlagen dienten lediglich dazu, bei den Bediensteten der Botschaft den Eindruck touristischen Aufenthaltszweckes und ordnungsgemäß geregelter Hotelunterbringung zu erwecken. Auf Grundlage der unrichtigen Angaben sind laut Anklage für insgesamt 1.194 ukrainische Staatsangehörige Touristenvisa Typ C erteilt worden. Das OLG hat den Nichteröffnungsbeschluss, durch den die Eröffnung des Hauptverfahrens durch das LG Wiesbaden abgelehnt wurde, auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft hin aufgehoben.

BGH, Urteil vom 27.04.2005 - 2 StR 457/04 – BGHSt 50, 105
 
Geschleuste: Frauen aus Russland, Ukraine und Litauen mit Touristenvisa Typ C.
Tatvorgang: Der Angeklagte vermietete in den Jahren 2001 bis 2003 entgeltlich Zimmer an Staatsangehörige aus Russland, der Ukraine und Litauen (damals – vor dem EU-Beitritt – Drittstaat). Darunter befanden sich auch Frauen, die in Deutschland der Prostitution nachgehen wollten. Die Ausländerinnen waren mit Touristenvisa eingereist – der Angeklagte leistete in mehreren Fällen Unterstützung bei der Verlängerung der Visa.

BGH, Urteil vom 26.04.2006 - 5 StR 32/06

Geschleuste: Frauen aus Ukraine und Lettland (vor EU-Beitritt)
Tatvorgang: Ausstattung der Ukrainerinnen mit erschlichenen Visa oder lettischen Pässen, Kontrolle über Einreise, Abholen, Wohnung und Prostitution   

Es handelt sich um ausgesuchte veröffentlichte Entscheidungen der Strafjustiz, so dass sie das Ergebnis einer willkürlichen Selektion sind – über die Taten, die unveröffentlichten Urteilen vorliegen, können keine Angaben gemacht werden.

3. Rechtsprechung und Praxisfälle zur legendierten Einreise

Für Fälle der Unanwendbarkeit des § 95 II Nr. 2 AufenthG ist die Erweiterung der Strafbarkeit der unerlaubten Einreise auf die Einreise mit erschlichenen Visa gem. § 95 VI AufenhG - neu eingefügt 2007 - vorgesehen. Diese Einreise bleibt aber verwaltungsrechtlich eine erlaubte Einreise, weil die formale Einreiseerlaubnis in Form des Visums vorliegt (Nr. 95.6 Satz 4, 5 AVwV-AufenthG, Nr. 15.1.2 AVwV-AufenthG; BGH NJW 2000, 1732; BGH, Urteil vom 18.10.2001 - 3 StR 247/01; BGH NJW 2005, 2097; BGH, Urteil vom 26.04.2006 - 5 StR 32/06; LG Dresden, Urteil vom 29.11.2001 bei Lorenz, NStZ 2002, 640). Da § 95 VI AufenthG nicht in § 96 I AufenthG in Bezug genommen wird, ist die Anwenung als Bezugtat für den Schleusertatbestand zweifelhaft. Folgende Fälle aus der Rechtsprechung sind bekannt:

AG Frankfurt/M., Urteil vom 18.03.2008 - 932 Ds 10380 - 3350 Js 210221/09

Geschleuste Personen: Chinesische Staatsangehörige mit portugiesischen Touristen-Visa Typ C. Durch das AG wurde eine Tat nach § 95 VI AufenthG als Bezugstat für § 96 I AufenthG (Schleusung durch Beihilfe zur Einreise mit erschlichenen Aufenthaltstiteln) angesehen.

BGH, EuGH-Vorlagebeschluss vom 10.01.2012 - 5 StR 351/11 - und Revisions-Beschluss vom 24.05.2012 - 5 StR 567/11 (LG Berlin 68 Js 52/10 KLs 537 - 39/10)

Geschleuste Personen: Vietnamesische Reisegruppen mit ungarischen Touristenvisa Typ C über Frankreich nach Deutschland oder mit erschlichenen schwedischen Arbeitsvisa für Saisonerntehelfer über Schweden nach Deutschland. Tatvorwurf: § 97 II iVm. § 96 I i.V.m. § 95 VI AufenthG. Der BGH hat keine rechtlichen Bedenken gegen die Anwendung des § 95 VI AufenthG als tatbestandliche Gleichstellung der mit erschlichenen Visa legendierten Einreise in Bezug auf die unerlaubte Einreise und die Anwendung als Bezugstat für Schleusungen. 

4. Rechtsprechung zum Erschleichen von Aufenthaltserlaubnissen

Um einen Fall des Erschleichens von Aufenthaltstiteln in der Ausländerbehörde ging es in folgendem Fall:

BGH, Beschluss vom 30.05.2013 - 5 StR 130/13

Der BGH hat in diesem Zusammenhang entschieden, dass die Täterschaft wegen Erschleichen eines Aufenthaltstitels nach § 95 II Nr. 2 AufenthG durch eigene Falschangaben zugleich Beihilfe zur Benutzung dieser Falschangaben und damit im Falle gewinnorientierten Handelns eine Schleusung nach § 96 I Nr. 2 AufenthG darstellen kann.

Stand 19.07.2013

 
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