Platzierung im Hauptstudium des modularisierten SJ: HS I M 11
Aktuelles
1.)Fall der erfrorenen Reisenden aus der RepublikMoldau aufgeklärt - Verdacht des Einschleusens mit Todesfolge nicht bestätigt
Hinsichtlich des in der Medienberichterstattung u.a. unter den Schlagzeilen"Tote Frau stammt aus Moldawien" (Sächsische Zeitung v. 07.02.2005 und 12.02.2005) und "Wer ist die Tote im Schnee?" (Chemnitzer Morgenpost vom 07.02.2005) berichteten Sachverhaltes hat sich derAnfangsverdacht eines Einschleusens mit Todesfolge (§ 97 I AufenthG) nicht bestätigt. Die gerichtliche Beweiserhebung des LG Görlitz hat ergeben, dass der Angeklagte, ein arbeitsloser Diplom-Ingenieur aus der Republik Moldau, am 27.01.2005 mit seiner Lebensgefährtin und der späterVerstorbenen Moldauerin Luidmila A., die er auf Verlangen des moldauischenBeschaffers eines polnischen Visums mitzunehmen hatte, von der Republik Moldauaus mit dem polnischen Visum nach Polen gereist ist und alle drei Personen Tagespäter gemeinsam über die Neiße nach Deutschland eingereist sind. Dabei ist A.nahe der Ortschaft Oberseifersdorf (Ortsteil von Mittelherwigsdorf, LandkreisLöbau-Zittau/Land Sachsen) gestürzt und konnte nicht mehr weitergehen. Siewurde auf eigenes Verlangen zurückgelassen und ist bei minus 11 Grad erfroren. Dervom Angeklagten erwartete Abholer aus Frankfurt/M. ist entgegen demursprünglichen Plan nicht gekommen.
Aufgrund dieser Sachverhaltsfeststellungen lag kein Grundtatbestand desEinschleusens nach § 96 I AufenthG und daher auch keine Qualifikation nach § 97I AufenthG vor. Entgegen der in der Revision der Staatsanwaltschaft vertretenen Auffassung war auch §§ 212, 13 StGB nicht anwendbar. Gem. der Revisionsentscheidung BGH NStZ 2008, 276 begründet dieGefahrengemeinschaft der drei Betr. bei der unerlaubten Einreise (und dieBeihilfe des Angekl. i.S.v. § 27 StGB zur unerlaubten Einreise der A.) keine Garantenstellung, da der Angekl. keine Schutzfunktion übernommen hatte, so dassihm der Tod der A. rechtlich nicht über § 13 StGB zuzurechnen ist. Da dem selbst vom Fußweg erschöpften und kurz darauf vom Schlaf überwältigten Angeklagteneine Hilfeleistung nicht mehr möglich war, lag auch keine Straftat nach § 323cStGB vor.
2.) Anpassung der Bezugstat des unerlaubten Aufenthaltes an die EU-Rückführungsrichtlinie
Mit Inkrafttreten des Gesetzes zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union und zur Anpassung nationaler Vorschriften an den EU-Visakodex vom 22.11.2011 (BGBl. I 2258 v. 25.11.2011) mit Wirkung vom 26.11.2011 wurde die in § 96 I AufenthG in Bezug genommene Tat des unerlaubten Aufenthaltes an die EU-Rückführungsrichtlinie RL 2008/115/EG angepasst. Der objektive Tatbestand des § 95 I Nr. 2 AufenthG setzt danach voraus, dass ein Aufenthalt ohne erforderlichen Aufenthaltstitel vorliegt und a) vollziehbare Ausreisepflicht (§ 50 I i.V.m. § 58 II AufenthG) besteht, b) eine Ausreisefrist abgelaufen ist oder nicht gewährt wurde (§ 59 I AufenthG, Umsetzung von Art. 7 RL 2008/115/EG) und c) keine Aussetzung der Abschiebung (Duldung, § 60a AufenthG) vorliegt.
3.)Visa-Erschleichung: Anwendung des § 95 VI AufenthG als Bezugstat
Durch AG Frankfurt/M., Urteil vom 18.03.2008 (da offenbar Schreibfehler:18.03.2009) - 932 Ds 10380 - 3350 Js 210221/09 - wurde eine Tatnach § 95 VI AufenthG als Bezugstat für § 96 I AufenthG (Schleusung durchBeihilfe zur Einreise mit erschlichenen Aufenthaltstiteln) angesehen, obwohl §95 VI AufenthG nicht ausdrücklich als Bezugstat in § 96 I AufenthG aufgeführtist. Da § 95 VI AufenthG jedoch keinen eigenen Tatbestand darstellt, sondernlediglich u.a. die Einreise mit erschlichenem Aufenthaltstitel der Einreiseohne Aufenthaltstitel nach § 95 I Nr. 3 AufenthG gleichstellt, wird dieseAuslegung auch bei Westphal/Stoppa, Ausländerrecht für die Polizei, 3.Aufl. 2007, S. 740f, als vertretbar angesehen (a.A. Stoppa in Huber, AufenthG,2010, § 96 Rdnr. 12 unter Hinweis auf den Bestimmtheitsgrundsatz nach Art. 103II GG).
4.) Visa-Erschleichung: BGH bestätigt nach EuGH-Vorlagebeschluss Vereinbarkeit des § 95 VI AufenthGmit EU-Recht und Anwendbarkeit als Bezugstat zum Schleusertatbestand § 96 I AufenthG
Durch Beschluss vom 24.05.2012 – 5 StR 567/11 – (LG Berlin,68 Js 52/10 KLs 537 – 39/10 - NJW 2012, 2210; JR 2012, 525 mit Anmerkung Kretschmer) hat der BGH die Vereinbarkeit des § 95 VI AufenthGmit Art. 21, 34 VO (EG) Nr. 810/2009 (EU-Visakodex) und die Anwendbarkeit des §95 VI AufenthG als Bezugstat für den Schleusertatbestand § 96 I AufenthGbestätigt.
Der Fall betrifft den Verdacht der Einreisehilfe nach Deutschland und Weitertransport nach Berlin für vietnamesischeStaatsangehörige mit erschlichenen Touristenvisa der Auslandsvertretung von Ungarn und erschlichenenArbeitsvisa der Auslandsvertretung von Schweden für Erntehelfer als Saisonkräfte.
Die Einreise erfolgte über Schengen-Binnengrenzen aus Frankreich und Schweden.
Der Revisionsentscheidung vorausgegangen war der EuGH-Vorlage-Beschluss vom 10.01.2012 - 5 StR351/11 (NJW 2012, 1669) - zurVorabentscheidung, ob die Erteilung und Annullierung vonSchengen-Visa regelnden Art. 21, 34 VO (EG) Nr. 810/2009 (EU-Visakodex) der innerstaatlichen Strafbarkeit gem. § 96 I iVm. § 95 VI AufenhG entgegen stehen.
Nach Stellungnahme der Generalanwältin vom 26.03.2012 hat der EuGH mit Urteil vom 10.04.2012 – C-83/12 PPU (NJW 2012, 1641) – entschieden, dass das EU-Recht – insbesondere Art. 21, 34 VO (EG) Nr. 810/2009 (EU-Visakodex/VK) – einer im innerstaatlichen Recht vorgesehenen Strafbarkeit wegen Einschleusens von Drittstaatsangehörigen, die über ein durch arglistige Täuschung erlangtes Visum verfügen, nicht entgegensteht. Zur Begründung führt der EuGH aus, dass Art. 34 I VK die Visa-Annullierung für die zuständigen Behörden des Ausstellerstaates obligatorisch vorsieht, während sie für die zuständigen Behörden eines anderen Schengen-Staates im Ermessen steht (Rdnr. 39, 40 der Urteilsgründe). Weiterhin verweist der EuGH darauf, dass einerseits die Systematik des Art. 34 VK verlangt, dass das Aufenthaltsrecht eines Visuminhabers nicht beschränkt werden darf, solange das Visum nicht annulliert worden ist, andererseits aber der EU-Rahmenbeschluss 2002/946/JI und die RL 2002/90/EG eine wirksame Bekämpfung der Schleuserkriminalität verlangen (Rdnr. 45). Da dem EuGH zufolge ein Strafverfahren mit der Erforderlichkeit verbunden sei, Ermittlungen nicht offenzu legen, könne das Erfordernis der Visa-Annullierung vor Einleitung derStrafverfolgung nicht in jedem Fall erfüllt werden (Rdnr. 47). Danach stehen Art. 21, 34 VK der Strafverfolgung in Fällen der Einreisehilfe für Drittstaatsangehörige mit erschlichenen Visa nicht entgegen (Rdnr. 48).
Nach dem BGH-Beschluss vom 24.05.2012 – 5 StR 567/11 – steht der Grundsatz der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung (verwaltungsrechtlichbleibt es auch im Falle der Visa-Erschleichung bei einer legalen Einreise, vgl.Nr. 95.6 Satz 4 AVwV-AufenthG) der strafrechtlichen Ausdehnung derAnwendbarkeit von § 95 I Nr. 2, Nr. 3 AufenthG durch § 95 VI AufenthG auf miterschlichenen Visa legendierten Einreisen und dessen Anwendbarkeit als Bezugstat für die Schleusertatbestände §§ 96, 97 AufenthG nicht entgegen (Rdnr. 10, 11, 14, 16, 20, 21 der Entscheidungsgründe).
5.) Schengen-Schleusung ausgedehnt auf alle EU- und Schengen-Staaten
Auf Grund der RL 2002/90/EG wurde nach dem Schengen-Beitritt der Schweiz 2008 und Liechtensteins 2011 mit Inkrafttreten des Gesetzes zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union und zur Anpassung nationaler Vorschriften an den EU-Visakodex vom 22.11.2011 (BGBl. I 2258 v. 25.11.2011) mit Wirkung vom 26.11.2011 an die Vorschrift des § 96 IV AufenthG entsprechend erweitert. Die Anwendbarkeit des § 96 I wird durch den neu gefassten Abs. 4 ausgedehnt auf das Einschleusen in die EU-Staatenoder Schengen-Vollanwenderstaaten (vorher vom Wortlaut her nur EU-Staaten, Island und Norwegen).
6.) BGH zur versuchten Einschleusung
Der Versuch des Einschleusens gem. § 96 III AufenthG in der Fallalternative der Einreisebeihilfe richtet sich nach §§ 22, 23 StGB und § 30 I StGB und kann auch im Vorfeld und nach neueren BGH-Entscheidungen auch dann vorliegen, wenn die unerlaubte Einreise selbst nicht in das Versuchsstadium eingetreten ist (BGH, Beschl. v. 26.03.2012 - 5 StR 86/12; BGH, Beschl. v. 06.06.2012 - 4 StR 144/12).
7.) BGH zum Versuch bei der EU-/Schengen-Schleusung
Im Hinblick auf die EU-/Schengen-Schleusung hat der BGH die Übertragbarkeit der Regeln der Versuchsstrafbarkeit nach § 96 III AufenthG und der Abgrenzung zwischen versuchter und vollendeter Einreise nach § 13 II Satz 1 AufenthG auf § 96 IV i.V.m. § 95 I Nr. 3 AufenthG bestätigt (BGH, Beschl. v. 01.08.2012 - 4 StR 226/12). Der Fall betraf eine Transportschleusung von Frankreich nach Großbritannien, die in der Einreisekontrolle eines britischen Fährhafens entdeckt und beendet wurde. Der Fall betrifft ein ausschließliches Schleusen über eine Schengen-Außengrenze ohne Gebietskontakt mit Deutschland und liegt damit anders als der vom BGH in Bezug genommene frühere Fall BGH NJW 2002, 3642 (3643): In diesem Fall sollten Drittstaatsangehörige von Deutschland aus über Schengen-Binnengrenzen nach Frankreich und in die Niederlande - und in das damals noch nicht zum Schengen-Raum gehörende Dänemark - transportiert werden.
Von Fällen dieser Art zu unterscheiden ist die Fallkonstellation des BGH, Beschl. v. 09.09.2003 - 4 StR 269/03 (NStZ-RR 2004, 23): In diesem Fall sollten irakische Staatsangehörige von Italien über Österreich nach Deutschland gebracht werden, der Transport wurde jedoch in Österreich durch polizeilichen Zugriff beendet. Der BGH hat diesen Fall als versuchtes Einschleusen nach Deutschland und als vollendetes Einschleusen von Italien nach Österreich gem. § 92 IV AuslG (jetzt § 96 IV AufenthG) behandelt.
8.) BGH zur Täterschaft § 95 II Nr. 2 AufenthG / § 96 I Nr. 2 AufenthG
Die Täterschaft wegen Erschleichen eines Aufenthaltstitels nach § 95 II Nr. 2 AufenthG durch eigene Falschangaben kann zugleich Beihilfe zur Benutzung dieser Falschangaben und damit im Falle gewinnorientierten Handelns eine Schleusung nach § 96 I Nr. 2 AufenthG darstellen (BGH, Beschl. v. 30.05.2013 - 5 StR 130/13).